Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Sa 17. Feb 2018, 21:24
Die Geschichte wird sich wiederholen. Man wird über die beiden "unfähigen" Piloten herfallen, wahrscheinlich auch die, die sie ausgebildet, eingestellt oder gecheckt haben. Man wird jedoch ganz bestimmt nicht die Frage stellen, ob man bei der Grundausbildung von Piloten einen überaus kapitalen Fehler gemacht hat.
Seit Generationen trichtert man Piloten ein, man könne einen Strömungsabriß verhindern, indem man die berühmte Stall Speed nicht unterschreitet. Diese "Geschwindigkeit" (IAS) ist jedoch keine Geschwindigkeit, sondern ein Staudruckäquivalent, d.h. ein Staudruck geeicht anhand einer Geschwindigkeitsskale. Diese Äquivalenz gilt jedoch nur unter standardatmosphärischen Bedingungen und auf Meereshöhe. Wenn es bei dieser "Staudruckgeschwindigkeit" speziell um die Stall Speed geht, so gilt dieser Handbuchwert auch nur für ein vertikales Lastvielfaches (g load) von 1,0 g, also nur unter Laborbedingungen (keine Turbulenz, keine Manöver, kein Kurvenflug, keine vertikale Flugbahnänderung usw.).
In den Pioniertagen der Luftfahrt war die Geschwindigkeitsbestimmung durch Staudruckmessung eine akzeptable Methode, weil man anfangs nur in sehr geringen Flughöhen unterwegs war. Später hat man versäumt sich von diesem Anachronismus zu trennen.
(Die Messung des Staudrucks ist dennoch sinnvoll, um die aerodynamische Überlastung der Flugzeugstruktur zu verhindern. Selbstverständlich wird dieses Staudrucklimit den Piloten ebenfalls als ein Geschwindigkeitslimit verkauft.)
Ob ein Strömungsabriß eintritt, hängt primär vom Anstellwinkel ab. Bei welchem Anstellwinkel die Strömung abreißt, hängt in einem geringeren Maße von der Machzahl ab. Vom Staudruck, aka Geschwindigkeit, hängt das eben nicht ab.
Das letzte Manöver der Piloten ist leider ein "Klassiker". Die extrem geringe angezeigte Fluggeschwindigkeit (IAS) wurde offensichtlich als extrem überzogener Flugzustand (Strömungsabriß) interpretiert. Auf diese (falsch eingeschätzte) Flugsituation reagierten sie korrekt, indem sie den Anstellwinkel durch "Nachdrücken" drastisch reduzierten. Das vertikale Lastvielfache von 0 g dürfte Bände für die Panik sprechen, mit der sie den scheinbaren Strömungsabriß beenden wollten. Die Folge war der steile Sturzflug ...
Wir haben hier wieder die Situation, daß erfahrene Piloten panisch der Nadel ihres Fahrtmessers nachjagen und dabei keine Blick mehr für die nach wie vor normale Fluglage (künstlicher Horizont) und Flugbahn (Höhenmesser, Variometer) ihres Flugzeuges haben. Es ist ein Trauerspiel.
Natürlich ist einzuwenden, daß die Piloten mehrfach die Warnung Airspeed Disagree bekommen hatten. Aus der Geschichte der Flugunfälle ist bekannt, daß diese Instrumentenfehler besonders bei fehlender Außensicht (Horizont) teuflisch verwirrend sind. Die durch sie ausgelösten Warnungen sind zumeist auch noch extrem widersprüchlich. So können Stall Warning und Overspeed Warning zur gleichen Zeit ertönen. Man muß sich dan nur einmal vorstellen.
Das Gehirn kann in solchen Situationen eine totale Denkblockade* erleiden.
Die Flugzeughersteller haben die physikalischen Zusammenhänge richtig verstanden. In deren Logik zur Auslösung einer Überziehwarnung (z.B. Stick Shaker) gehen u.a. Anstellwinkel und Machzahl als die wesentlichen Eingangssignale ein. Der Staudruck bzw. die angezeigte Fluggeschwindigkeit (IAS) ist dagegen kein Input-Signal für diese Logik.
*) 1996, nach dem Bekanntwerden der Details des Unfalls der Birgen Air 757, habe ich die Situation an Bord eines Flugsimulators nachgestellt. Obwohl mir die physikalischen Zusammenhänge für die Anzeigefehler eines verstopften Staurohres im Steigflug bis in alle Einzelheiten klar waren und ich selbstverständlich genau wußte, welches Staurohr ich vorher per Software verstopft hatte, erlitt ich nach dem gleichzeitigen Einhämmern der Overspeed und Stall Warning auf mein Hirn genau diese Denkblockade.
Ich hatte zwei Fahrtmesser im Blickfeld. Einer zeigte eine sehr niedrige und weiter abnehmende Geschwindigkeit, der zweite eine hohe und weiter ansteigende Geschwindigkeit. Der Autopilot war im Speed Hold Modus, war also eigentlich damit beschäftigt, eine konstante Geschwindigkeit zu halten. Dazu kamen dann der Stick Shaker als Überziehwarnung und die nicht minder eindringliche Overspeed Warning - und es war dunkel über dem Atlantik.
In dieser Situation wußte ich plötzlich nichts mehr. Ich hatte die geistige Kontrolle über das Flugzeug verloren.
Nach diesem unerwartet eindrucksvollen Selbstversuch, habe ich sofort aufgehört von irgendwelchen "unfähigen" türkischen Piloten zu plappern. Viele andere, auch Kollegen, blieben jedoch bei ihrem Urteil: inkompetente Piloten.
IAS - Indicated Airspeed (angezeigte Fluggeschwindigkeit, Gerätegeschwindigkeit)
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Thomas
Mein Auto kann ich innerhalb von 5 Minuten komplett "aufladen" (sogar überall unterwegs) und komme damit ca. 700 km weit.