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Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 19:55
von Kilo Mike Sierra
1978 erschien in der westdeutschen Zeitschrift "Hobby - Technik, Test, Freizeit" ein außergewöhnlicher Bericht über den Einsatz der Tu-144 im Liniendienst der Aeroflot.

Der Artikel "Rußland mit Mach 2" umfasste acht Seiten und war somit sehr umfangreich. Dazu kamen das passende Titelbild sowie ein optimistischer Leitartikel eines BFS-Fluglotsens zum Überschall-Luftverkehr.
Der Bericht ist interessant und gehaltvoll, weil er nicht (wie heute üblich) am Schreibtisch anhand fremder Quellen recherchiert worden ist, sondern weil Luft- und Raumfahrt-Journalist Richard Höhn sowie sein Fotograf Bernhard Wagner selbst nach Moskau geflogen sind, um zwei Linienflüge an Bord einer Tu-144 zu unternehmen.
Danach trafen sie sich sogar noch mit Alexej A. Tupolew zum Interview und parlierten über die Zukunft des Überschall-Luftverkehrs, die Concorde und die Tu-144.

Auffallend war auch, daß der Bericht ohne Klischees oder irgendwelche ideologisch eingefärbte Kommentare auskam. Damals herrschte ja noch der Kalte Krieg, besonders in den Medien, aber Richard Höhn ist offensichtlich nicht hingegangen.
Der Verfasser des Artikels hat nur das aufgeschrieben, was er selbst gesehen und erlebt oder aus erster Hand erfahren hat. Das ist für mich guter Journalismus.
Somit basiert der Artikel auf harten Fakten und ist daher 35 Jahre später immer noch von hohem Wert und angenehm zu lesen.

Unter dem Tu-144 Titelfoto von "Hobby" Heft 8/1978 stand in dicken Lettern die völlig korrekt formulierte Schlagzeile

Wir flogen schneller als die Concorde:
Sowjet-Superjet


Bei Interesse könnte ich ja die interessantesten Beobachtungen aus diesem "Tu-144 Testbericht" hier zitieren.

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 20:19
von Peter
Thomas,
meinerseits besteht sehr großes Interesse, zumal der Artikel ja ohne die sonst üblichen Klischees auskommt.

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 20:32
von EA-Henning
Das Vorenthalten solcher Infos grenzt an Nötigung....

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 20:39
von Kilo Mike Sierra
Die beiden deutschen Journalisten sind am 31. Januar 1978 mit SU499 von Moskau-Domodedowo nach Alma Ata geflogen und am gleichen Tag mit SU500 wieder zurück nach Moskau.

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Aeroflot TU-144 CCCP-77115 MAKS 2011 by Chris Goodwin - AirTeamImages, on Flickr

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Wir gehen an Bord. Eine freundlich lächelnde Stewardeß in schmucker dunkelblauer Uniform empfängt uns. Unsere Plätze befinden sich im vorderen Teil der Kabine, dem 1.-Klasse-Abteil der Maschine, das elf Fluggästen Platz bietet. Die Tu-144 ist die einzige Maschine der Aeroflot mit 1.-Klasse-Kabine.
Die breiten, bequemen orange-gelb überzogenen Stühle und die gedämpfte Musik, die aus den Lautsprechern rieselt, lassen uns sehr schnell wohlfühlen. Unsere Mäntel verstauen wir in der Garderobe auf der linken Seite gleich neben der Tür.
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Hier ein Foto von der First Class Kabine.

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TU-144 by Andromeda103, on Flickr


wird fortgesetzt

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 21:00
von Kilo Mike Sierra
Dann finden wir Zeit, uns in der Maschine umzusehen. Wie bei herkömmlichen Verkehrsflugzeugen finden fünf Passagiere in einer Reihe Platz. Das empfand ich als sehr angenehm, denn das von der Concorde bekannte beklemmende Gefühl, in einer engen Röhre eingeschlossen zu sein, kommt hier nicht auf.
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Nur in den hinteren fünf* Reihen sind lediglich vier Sitze pro Reihe untergebracht.
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Kurz nach halb elf Uhr läßt ein sanftes Schütteln die Maschine erzittern. Die vier mächtigen am Rumpf der Maschine montierten Kusnetzow-NK-144-Düsentriebwerke werden gestartet.
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Die vier Kraftpakete erzeugen dabei eine Schubkraft von fast 80 Tonnen und zeigen sich dabei mächtig durstig. Pro Flugstunde schlucken sie etwa 30 Tonnen Kerosin: ein Tanklastzug pro Stunde.


*) Da hat er sich um eine Reihe verzählt. Es waren sechs Reihen mit 2+2 Sitzen.

wird fortgesetzt

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: So 24. Feb 2013, 10:46
von EA-Henning
So, kann weitergehen....

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: So 24. Feb 2013, 12:43
von Kilo Mike Sierra
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10.48 Uhr: Wir rollen zum Start. Die Stimme der Chef-Stewardeß heißt die Passagiere im Namen von Ingenieur-Pilot 1. Grades' Boris Kusnezow auf dem Flug von Moskau nach Alma Ata herzlich willkommen. Der Flug werde etwas über zwei Stunden dauern und noch eine wichtige MItteilung: Rauchen ist während des ganzen Fluges verboten! Weitere Informationen folgen während des Fluges. Leider kommt das alles nur auf Russisch, ...


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Der Lärm der Triebwerke schwillt jetzt zu einem wahren Orkan an. Ein Blick auf die Uhr - 10.59 Uhr: wir starten!
Wie von einem Pferd getreten werde ich in das Sitzkissen gepreßt. Mit rasend zunehmender Geschwindigkeit donnert der Vogel über die Startbahn des Domodedowo Flughafens. Eine derartige Beschleunigung bei einem Verkehrsflugzeugstart habe ich noch nicht erlebt.
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Tupolev Tu-144. by Beast 1, on Flickr


wird fortgesetzt (sind ja noch nicht 'mal richtig in der Luft)

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: So 24. Feb 2013, 18:14
von Flieger Bernd
Kilo Mike Sierra hat geschrieben: (sind ja noch nicht 'mal in der Luft)


Aber die geneigten Leser Bild

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: So 24. Feb 2013, 20:39
von Kilo Mike Sierra
Das Fahrwerk fährt ein - bei der Tu-144 eine Augenweide für Ingenieure.

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Tupolev TU-144 by clipperarctic, on Flickr

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Das Fahrwerk ist eingezogen. Die Maschine liegt absolut ruhig; das Kabinengeräusch übersteigt jedoch erheblich den Geräuschpegel in herkömmlichen Verkehrsflugzeugen.
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Die Schallmauer ist also durchbrochen und wenig später wird mitgeteilt, "daß auch die zweite Schallgeschwindigkeit erreicht ist".
Ich fliege also jetzt zweimal so schnell wie der Schall und sitze dabei bequem und entspannt wie zu Hause im Polstersessel meines Wohnzimmers. Der einzige Störfaktor ist der höhere Lärmpegel.
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Wie fliegen jetzt in 17000 Meter Höhe; die Außentemperatur beträgt minus 63 Grad und die Fluggeschwindigkeit etwa 2500 Kilometer pro Stunde.
Endlich ist es soweit: Unser verspätetes Frühstück besteht aus Kaviar, Salami mit viel Knoblauch, Rinderbraten, sehr schmackhaftem würzigen Brot, Kuchen, Wein, Tee und Schokolade. Ein fürstliches Mahl in 17 Kilometer Höhe zwischen Himmel und Erde.
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Tupolev Tu-144 Aeroflot by fsll2, on Flickr


wird fortgesetzt

Re: Zwei deutsche Journalisten an Bord der Tu-144

Verfasst: Di 26. Feb 2013, 19:25
von Kilo Mike Sierra
Bild
Tupolev Tu-144 Aeroflot by fsll2, on Flickr

...wird mir klar, daß der phantastische Flug, der nun langsam seinem Ende zugeht, mit einem herkömmlichen Flugzeug doppelt solange gedauert hätte als mit der Tu-144. Man sollte nur noch Überschall fliegen!
Während ich noch grüble, ob die Vorflügel ausgefahren sind oder nicht, reißt uns ein Rütteln, als ob man über eine Schotterstraße fahren würde, aus den Gedanken.
13.04 Uhr - wir sind gelandet. Mit den Klängen des Harry-Lime-Themas aus dem Film "Der dritte Mann" rollen wir zu unserer Parkposition. Ich muß gestehen: Einer der schönsten Flüge, die ich je erlebt habe.


Bild
Aeroflot Tupolev Tu-144 CCCP-77102 at the 1973 Paris Airshow by The Aviation Photo Company, on Flickr


Vielleicht zitiere ich später noch aus dem Interview mit Alexander A. Tupolew.