Aerodynamische Qualität der Tu-144

Moderator: Kilo Mike Sierra

Kilo Mike Sierra
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Aerodynamische Qualität der Tu-144

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 11. Mär 2013, 17:47

Die Tu-144 dürfte das von der Wald- und Wiesenpresse am meisten geschmähte Flugzeuge sein. Es gibt wohl auch kein Flugzeug, was so oft mit seinem westlichen Pendant verglichen worden ist. Leider sind die Ergebnisse dieser meist laienhaften Vergleiche durch ständige Wiederholung und Abschrift inzwischen zur Scheinrealität geworden.

Sehr oft wird (völlig zu Recht) behauptet, der Tragflügel der Concorde sei aerodynamisch ausgeklügelt, hochgradig effektiv und habe eine komplexe Form. Fast genauso oft wird dann postuliert, der Flügel der Tu-144 sei im Vergleich zu dem der Concorde sichtbar primitiver und reiche an dessen aerodynamische Qualität nicht heran.

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Concorde und Tupolev TU-144 by technikmuseum, on Flickr

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Concorde and TU-144 by mmoody_js, on Flickr

Es gibt zum Glück für beide Maschinen offizielle Daten aus erster Hand, so daß man sich selbst ein Bild vom Wahrheitswert dieser Behauptungen machen kann.
Laut einer Publikation von British Aerospace beträgt bei der Concorde das Verhältnis von Auftrieb zu Widerstand 7,3 bei einer Geschwindigkeit von M 2,05.
Der gleiche Parameter wird in einer Beschreibung der Aerodynamik der Tu-144 mit 8,0 bei M 2,2 angegeben.
Dieses Verhältnis von Auftrieb und Widerstand wird auch als Aerodynamische Qualität bezeichnet. Ihr Kehrwert wird als Gleitzahl oder Gleitverhältnis bezeichnet und ist eine Größe, die Segelfliegern bestens vertraut ist.

Aus den beiden angegebenen Werten lassen sich nun interessante Schlußfolgerungen ziehen.

Eines ist auf den ersten Blick erkennbar:
Die aerodynamische Qualität der Tu-144 im Reiseflug ist deutlich höher als die der Concorde. Wer hätte das gedacht.

Durch eine einfache Rechnung läßt sich feststellen, daß die Concorde bei gleicher Flugmasse knapp 10 % mehr Schub als die Tu-144 benötigt, wobei sie dann immer noch ca. 160 km/h langsamer fliegt als die Tu-144.

So primitiv und uneffektiv kann die aerodynamische Auslegung der Tu-144 also nicht gewesen sein, aber man hat es der ganzen Welt mit Erfolg eingetrichtert.
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Thomas

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Re: Aerodynamische Qualität der Tu-144

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 11. Mär 2013, 17:47

Im Interesse der Ausgewogenheit müssen wir die Sache noch von einer anderen Seite beleuchten.

Warum erreichte die Tu-144 aufgrund ihres geringeren Widerstandes nicht eine deutlich höhere, sondern sogar nur eine deutlich niedrigere Reichweite als die Concorde?

Die Antwort ist ernüchternd:
Obwohl die Tu-144 weniger Schub benötigt, verbrauchten ihre NK-144A Triebwerke zur Erzeugung dieses geringeren Schubs wesentlich mehr Treibstoff als die Concorde.
Im Reiseflug mit Überschallgeschwindigkeit mußten die NK-144A Triebwerke, im Gegensatz zu den Olympus-593-Mk-610 Triebwerken der Concorde, permanent mit Nachbrennern betrieben werden. Auch wenn nicht die volle Nachbrenner-Leistung benötigt wurde, so ergab sich jedoch ein viel zu hoher Kerosin-Verbrauch.

Als Turbofan-Triebwerke war das NK-144A nicht optimal für den Einsatz unter Überschallbedingungen geeignet. Hierfür eignen sich Turbojet-Triebwerke wie das Olympus deutlich besser. In geringeren Flughöhen und bei Unterschallgeschwindigkeit hat ein Turbofan-Triebwerk wiederum Vorteile gegenüber dem Turbojet. Aus diesem Grunde war die Tu-144 bei Start und Landung zwar leiser als die Concorde und ihre Rauchfahne war weniger dunkel, aber genützt hat es ihr auch nicht viel.

Die Tu-144 war nicht die erste und auch nicht die letzte sowjetische Flugzeugentwicklung, die unter dem Mangel an einem optimal geeigneten Triebwerkstyp gelitten hat.

Abhilfe für die schon sehr zeitig erkannte Triebwerkskrise der Tu-144 war in Aussicht. So wurde bereits 1967 damit begonnen, eine mit dem Triebwerk RD-36-51A ausgestatte Version der Tu-144 zu entwickeln. Diese erhielt die Bezeichnung Tu-144D und war in der Lage, die ursprünglich vorgegebene Reichweitenforderung von 6.500 km wenigstens annähernd zu erreichen.
Parallel dazu wurde auch an der Verbesserung des NK-144 gearbeitet. Die Version NK-144B wies gegenüber der A-Version erheblich verbesserte Parameter auf, die auch auf dem Prüfstand bestätigt wurden. Zu praktischen Flugversuchen kam es jedoch nicht.
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Re: Aerodynamische Qualität der Tu-144

Ungelesener Beitragvon EA-Henning » Mo 11. Mär 2013, 21:22

CCCP-77112_TU-144D_UUBW-2000_R-Villwock_07_W.jpg
Tragfläche von unten gesehen an der CCCP-77112.
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Re: Aerodynamische Qualität der Tu-144

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Di 12. Mär 2013, 22:54

Bei der Triebwerksproblematik ist es eigentlich kein Wunder, daß am Ende die Tu-144 aerodynamisch "glatter" war als die Concorde. Das war für das OKB Tupolew die einzige reale Möglichkeit, um das Antriebsproblem zu kompensieren und die Reichweite so weit wie möglich zu verbessern.

In einer idealen Welt hätte man die Tu-144 mit Olympus-Triebwerken ausgestattet und wäre bis ans Ende der Welt geflogen. Na ja, bis kurz davor.
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Re: Aerodynamische Qualität der Tu-144

Ungelesener Beitragvon EA-Henning » Di 12. Mär 2013, 22:57

Ich glaube, es war gar nicht mal die Triebwerksentwicklung an sich, sondern fehlende Teiltechnologien, die man sich nicht eben mal irgendwo einkaufen konnte, Cocom sei dank. Andererseits hatte man auch große Probleme mit hitzbeständigen Werkstoffen.
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