Wikipedia - der Spagat zwischen Enzyklopädie und Biertisch

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Kilo Mike Sierra
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Wikipedia - der Spagat zwischen Enzyklopädie und Biertisch

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 8. Okt 2012, 20:14

Wikipedia ist ein großartiges Gemeinschaftswerk und ein interessantes Beispiel der Selbstorganisation virtueller Arbeitsgruppen, die aus anonymen Individuen bestehen.
Insofern ist Wikipedia auch ein riesiger Feldversuch.
Leider hat das Produkt, d.h. die Enzyklopädie mit erheblichen Qualitätsproblemen zu kämpfen, für die es keine Lösung zu geben scheint.
Die Ursache dafür sehe ich in verschiedenen „Geburtsfehlern“ der Wikipedia.

So besteht von Anfang an kein Konsens darüber, ob Wikipedia mit der größtmöglichen Quantität an Information (oder was man dafür hält) befüllt wird, oder ob man Inhalte auf relevante Fakten beschränkt. Es gibt in der Wikipedia beide Strömungen und sie bekämpfen sich gegenseitig, was sehr zu Lasten der Artikelqualität geht. Der belanglosen Weitschweifigkeit sind so Tür und Tor geöffnet, denn wer irgendwelche Trivialitäten ergänzt sieht besser aus, als jemand, der irrelevanten Müll aus einem Artikel entfernen möchte.

Ein großes Problem ist zudem der Umstand, daß Beiträge fachlich qualifizierter Editoren von Laien verändert oder entfernt werden können, sofern die Laien in der Mehrheit sind - und das sind sie wohl sehr oft. Fachliche Selbstüberschätzung kann man als Wikipedia-Editor oder Administrator ungehemmt ausleben.

Als weiteren Webfehler der Wikipedia sehe ich die massenhafte und unkritische Verwendung sekundärer Quellen wie Presseberichte oder TV-Reportagen oder sogar Blogs, deren Verlässlichkeit und Recherche-Qualität in der Regel nicht den Anforderungen einer Enzyklopädie genügen können.

Als Folge dessen bewegt sich die durchschnittliche Qualität der Artikel nur knapp über dem Niveau der Sensationspresse, vor allem bei Artikeln zu aktuellen Ereignissen, Personen der Zeitgeschichte und des öffentlichen Lebens.
Lichtblicke in Form von zahlreichen exzellenten Artikeln gibt es natürlich auch. Nur wie soll ein Nutzer der Wikipedia mit diesen Qualitätsunterschieden umgehen? Soll er denn alle gebotenen Informationen erst noch selbst auf Verläßlichkeit prüfen?



Am Beispiel des deutschen Wikipedia-Artikels zum Absturz eines Airbus 330 der Air France über dem Atlantik möchte ich zeigen, mit welchen inhaltlichen Qualitätsproblemen man rechnen muß.
Meine Kommentare dazu werden sicher etwas spöttig oder sogar bissig ausfallen, was man mir aber bitte nachsehen möge.

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Schon die Überschrift des Artikels Air-France-Flug 447 ist als Lemma in einer Enzyklopädie sehr problematisch, aber man hält eisern daran fest.
Es ist überhaupt nicht ersichtlich, daß es sich hier um die Beschreibung eines Flugunfalls handelt. Auch Ort, Zeitpunkt oder der Typ des beteiligten Flugzeuges werden nicht erwähnt. Es wird völlig ignoriert, daß Flugnummern nicht abstürzen und der Flug AF 447 vorher unzählige Male ereignislos stattgefunden hat.


Am 17. August 2006 war das Flugzeug an einem Zwischenfall am Boden beteiligt, als es auf dem Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle in einen Airbus A321 rollte. Der A330 wurde dabei nur geringfügig beschädigt.

Dieser frühere Zwischenfall war ohne jede Bedeutung für den Unfallhergang. Das ist natürlich noch lange kein Grund, um diesen Vorfall hier nicht besonders zu erwähnen.
Interessant ist auf jeden Fall, wie breit die Türen bei diesem Airbus 321 gewesen sein müssen.


Nach dem Unglück erhielt dieser Linienflug die neue Flugnummer AF 445, unter der er erstmals eine Woche nach dem Unglück, am Abend des 7. Juni 2009, in Rio startete. Der Flug wird mit Stand März 2011 nach wie vor mit Flugzeugen vom Typ A330-200 bedient.

Eine Enzyklopädie wie sie sein sollte: Fakten, Fakten, Fakten! Nichts als Fakten.
Diese überaus relevante Information über den klammheimlichen Ersatz der nun mit einem dunklen Fluch belegten Flugnummer würde besser in eine Zeitschrift passen, die durch besonders große Buchstaben auf der Titelseite auffällt.


Aufgrund der unterschiedlichen Messwerte wurde unter anderem der Autopilot durch den Bordcomputer deaktiviert.

Bordcomputer gibt es im Auto-Marketing und auf der USS Enterprise. Den (einen) Computer gibt es beim Airbus A330 überhaupt nicht.
Man lese einfach noch einmal im Unfallbericht. Da steht es genau beschrieben.


22:45 FAILURE LAV CONF Fehlfunktion WC

Drei Stunden und 25 Minuten vor dem Unfall gab es also ein Problem mit einer der Toiletten. Das ist mega-relevant! Damit können wir zeigen, wieviel wir über den Unfallhergang in Erfahrung gebracht haben.


Die brasilianische Luftwaffe beorderte zwei in Salvador und Recife stationierte Flugzeuge (Embraer EMB 110 Bandeirante und Lockheed C-130 Hercules) zur Suche in das Gebiet des Archipels Fernando de Noronha. Die Fregatte Constituição und die Korvette Caboclo wurden ebenfalls in die Region entsandt. Das brasilianische Patrouillenboot Grajaú erreichte als erstes Schiff die vermutete Absturzstelle. Frankreich beteiligte sich mit einem Langstrecken-Seeaufklärer vom Typ Breguet Atlantic von Dakar aus.

Für diese wertvolle Information ist die geneigte Wikipedia-Leserschaft bestimmt dankbar. Der Unfallhergang ließe sich ohne diese Details auch gar nicht verstehen.


Ein französisches AWACS-Aufklärungsflugzeug vom Typ E-3 Sentry überflog am 3. Juni die Region, um mit dem Radarsystem vermeintliche Wrackteile und andere Spuren des Absturzes zu kartografieren. Frankreich entsandte darüber hinaus das Forschungsschiff „Pourquoi Pas ?“, das mit dem bemannten Tiefsee-U-Boot Nautile und dem ferngesteuerten Tiefseeroboter Victor 6000 in bis zu 6000 Metern Tiefe den Meeresboden untersuchen kann. Außerdem sind seit dem 10. Juni 2009 das Kriegsschiff Mistral und das Atom-U-Boot Émeraude der französischen Marine vor allem zur Unterstützung der Suche nach dem Flugschreiber (Flug-Daten-Recorder; FDR) vor Ort gewesen. Die USA sandten einen Seeaufklärer Lockheed P-3 Orion von Honduras aus in das Gebiet, der die Suche im Atlantik unterstützte. Am 8. Juni wurden von der US-Marine noch zwei hochsensible Ortungssysteme zum Aufspüren der Flugschreibersignale zur Verfügung gestellt.

Sehr aufschlußreich und nützlich. Diese ungebremste Überfrachtung des Artikels mit unrelevanten maritimen Details wertet ihn besonders auf.
Äh, worum ging es eigentlich in diesem Artikel? Das ist mir doch glatt entfallen.


Bei der Suchaktion beteiligten sich das US-amerikanische Schiff Anne Candies des Unternehmens Phoenix International, ausgestattet mit dem Tiefseeroboter der U.S. Navy Supervisor of Salvage and Diving (SUPSALV) CURV 21 und dem Deep Towed–Sonargerät ORION, sowie das norwegische Schiff Seabed Worker, ausgerüstet mit den drei AUVs REMUS 6000 und dem Roboter Triton XLX 4000.

Da staunt man, was so alles in einen Satz gequetscht werden kann. Mein Interesse an SUPSALV CURV21 ist jedenfalls geweckt.


Das Forschungsschiff Alucia fuhr dafür von Seattle in den USA über den Panama-Kanal nach Suape im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco, wo es Anfang März eintraf. Mit an Bord waren drei unbemannte torpedoförmige Tieftauchfahrzeuge vom Typ REMUS 6000, die eine Tauchtiefe von bis zu 6000 Meter erreichen und vom Waitt Institute for Discovery aus La Jolla in Kalifornien und vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften stammen.

Hier bekommen wir endlich die unabdingbaren Details zur Anfahrtsroute eines der Schiffe mitgeteilt. Schön ist auch die deutsche Beteiligung am Ereignis, wenn auch nur indirekt. Allerdings hätte ich gern noch näheres über REMUS 6000 und die vorherrschende Wellenhöhe erfahren.


Die Piloten erkannten nicht, dass sie wiederholt das bei Geschwindigkeitsanomalien anzuwendende Verfahren nicht anwandten, und konnten daher auch keine Abhilfe schaffen.

Gäbe es bei Wikipedia eine funktionierende Qualitätssicherung (z.B. einen Lektor oder verantwortlichen Redakteur), dann hätte es dieser Satz bestimmt nicht in den Artikeltext geschafft.
Allein das Wort „wiederholt“ in diesem Satz macht viel Spaß. Wenn jemand fünf Minuten lang etwas nicht tut. Wie oft hat er es dann nicht getan?
Wie bemerkt man etwas, was man gar nicht tut?
Diesen Text würde ich vereinfacht so formulieren: „Die Piloten begingen den Fehler, ihre Fehler nicht zu bemerken, was ein Fehler war.“ (Das nennt man daher auch Pilotenfehler.)

Dem Vernehmen nach sollen sich die meisten europäischen Hinterbliebenen gegen, die meisten brasilianischen Hinterbliebenen jedoch für eine Bergung ausgesprochen haben.

Gütiger Herrgott im Himmel, stehe uns bei!
Was für eine Quelle. Noch nie hat im Brockhaus ein Satz mit diesen Worten begonnen.


Der Artikel ist natürlich nicht durchgängig schlecht. Immerhin basiert er in wesentlichen Teilen auf dem offiziellen Untersuchungsbericht*, dessen zitierte Auszüge auch überwiegend korrekt übersetzt worden sind. Hauptprobleme des Artikels sind jedoch seine unerklärliche Weitschweifigkeit und die Einfügung vieler bedeutungsloser Nebensächlichkeiten.

*) Das ist leider keine Selbstverständlichkeit bei Wikipedia. Man bevorzugt oft die sich bei solchen Ereignissen überschlagenden Medienverlautbarungen.
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Re: Wikipedia - der Spagat zwischen Enzyklopädie und Biertis

Ungelesener Beitragvon Flieger Bernd » Di 9. Okt 2012, 18:35

Die Piloten erkannten nicht, dass sie wiederholt das bei Geschwindigkeitsanomalien anzuwendende Verfahren nicht anwandten,
und konnten daher auch keine Abhilfe schaffen.


Das blanke Elend Bild
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Re: Wikipedia - der Spagat zwischen Enzyklopädie und Biertis

Ungelesener Beitragvon DDR-TKB » Di 9. Okt 2012, 19:31

Also meine persönliche Erfahrung ist, dass Wikipedia ein sehr gute Grundlage ist, um nach vertiefenden Informationen zu suchen. Mir hat die Plattform unglaublich viel im Studium geholfen, komplexe Sachverhalte zu begreifen. Hier wird meiner Meinung nach eine Brücke zwischen schwer verständlicher Fachliteratur und "Laienwissen" geschlagen. Das ist natürlich ein anderer Anwendungsfall, als der für den Thomas hier Haare mit teilweise sehr spitzer Zunge spaltet. >grins<
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Kilo Mike Sierra
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Re: Wikipedia - der Spagat zwischen Enzyklopädie und Biertis

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mi 10. Okt 2012, 13:20

Ja, das mit den breiten Türen beim Airbus 321, das war wirklich haarspalterisch von mir. >grins<

Ich habe auch so einen Spagat mit Wikipedia hinter mir. Zuerst war ich begeisterter Nutzer, dann auch enthusiastischer Editor (eigentlich mehr Korrektor)...und dann bin ich zweimal mit Wikipedia-Wissen hart auf die Schnauze gefallen - und sehr nachdenklich geworden.

Wenn ich meine obenstehende Kritik in einen Satz fasse, so wird daraus die bohrende Frage. Wie verläßlich ist der Inhalt von Wikipedia?


Da ist leider niemand, der für irgend etwas garantiert.
Es hat schon seine Gründe, daß Wikipedia an vielen Hochschulen und Universitäten nicht als Quelle für akademische Arbeiten genutzt werden darf.
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Thomas

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Re: Wikipedia - der Spagat zwischen Enzyklopädie und Biertis

Ungelesener Beitragvon Flieger Bernd » Mi 10. Okt 2012, 18:44

Stimmt schon, wer Wikipedia liest sollte eine gewisse Vorbildung mitbringen,
Zusammenhänge kennen und auch im Fach nicht fremd sein.
Ich habe auch schon gelesen und korrigiert - in kleinem Rahmen, privat aus Neugierde.
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