AN-26 Kamtschatka vermißt

Kilo Mike Sierra
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Fr 9. Jul 2021, 01:11

Wenn ich die Anflugkarten mit metrischen Höhenangaben und "imperialen" Flight Levels richtig interpretiere, dann hätte die Besatzung beim Sinken durch FL070 den Höhenmesser von Standarddruck auf den aktuellen QFE-Luftdruck von 758 mm Hg umstellen müssen.

Das Wetterradar würde die Küstenlinie deutlich anzeigen. Anders als beim EGPWS kann man aber nicht erkennen, wie hoch das Gelände aufragt. Zum Experimentieren mit der Antennenneigung, um vielleicht eine vage Höheninformation zu erhalten, ist im Endanflug keine Zeit.


Aus den wenigen gesicherten Fakten kann bislang nur folgendes abgeleitet werden.
Das Flugzeug ist im Endanflug ca. 2,5 km neben der Anfluggrundlinie verunglückt. Die Flughöhe lag dabei ungefähr in der richtigen Größenordnung, da die Sollhöhe bei dieser Entfernung zur Landebahn ca. 160 m beträgt.
Wenn es ein Navigationsfehler war, so war es primär ein Positionsfehler und weniger ein Höhenfehler.

Bislang ist nicht bekannt, ob die Besatzung einer der offiziellen Anflugprozeduren gefolgt ist oder einen "selbstgestrickten" Anflug versucht hat. In beiden Fällen deutet der Unfallort auf einen Navigationsfehler hin.

Der Anflug auf den Flughafen von Palana ist bei schlechten Sichtverhältnissen schwierig, da das hohe Gelände auf der verlängerten Pistenachse einen Anflug mit abweichendem Kurs mit einer Rechtskurve kurz vor dem Aufsetzen erforderlich macht. Beim NDB-Anflug wird mit einem seitlichen Kurs-Offset von 15 Grad angeflogen, beim RNP-Anflug sogar mit 20 Grad Kursdifferenz. Bei Nacht und Nebel ist die letzte Phase des Anfluges nicht einfach, zumal es keine präzise Höhenführung gibt (wie etwa bei einem ILS-Anflug). Potentiell ist das gefährlicher als ein Standardanflug nach ILS, aber die Infrastruktur des kleinen abgelegenen Flughafens und das Gelände lassen nichts besseres zu. Es gäbe theoretisch zwar die Möglichkeit, einen rein auf GPS basierenden Präzisionsanflug vom Typ IAN einzurichten, aber zu dessen Nutzung benötigt man auch modernes Fluggerät (Baujahr ab ca. 2010).

Das potentiell höhere Risiko der vorhandenen Nicht-Präzisionsanflüge in Kombination mit dem Gelände und den Wetterverhältnissen ist jedoch keine Erklärung dafür, wie diese An-26 so weit neben den nominalen Anflugweg geraten konnte.

Dieses Foto zeigt den Blick in den Anflugsektor. Auf der verlängerten Anfluggrundlinie sieht man die zum Meer steil abfallende Bergkette, die dem Flugzeug zum Verhängnis geworden ist. Der aufgrund der Geländesituation seitlich versetzte Anflugweg führt links neben den Bergen und rechts von der Palana-Mündung über den flachen Strand.


IAN - Integrated Approach Navigation (auf GPS basierender pseudo-ILS Anflug)
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Thomas

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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon bluemchen » Fr 9. Jul 2021, 17:38

Das ist eine sehr gute Ansicht :-)
Kilo Mike Sierra hat geschrieben:Dieses Foto zeigt den Blick in den Anflugsektor.
die verdeutlicht, worüber wir reden.

Um auf das Platzwetter zurückzukommen: Unter dem landläufigen Status "sehr schlecht" würde ich einordnen - stark eingeschränkte Sicht (Nebel/tiefliegende Wolkenschleier/Regen) und mit Sicherheit eine Windkomponente.
Wie ließe sich aus den Tagesdaten diese Strömungskomponente dem Endanflug zuordnen ? Ich meine, hätte diese einen Einfluß auf den tatsächlichen Flugweg (Versatz) haben können
und wie war die Relation zum definierten Minimum für Palana?

Und nochmal zu "GPS": Ist bekannt, ob man dort das GPS oder das eigene Glonass-System nutzt? Glonass gewährleistet doch mit 24 Sats (manchmal 23) in den drei Bahnebenen eine globale Abdeckung. Eigentlich.
(Eben mal nachgesehen: Von 27 sind 23 operational, 1 Wartung, 1 Res. 2 Testphase - https://www.glonass-iac.ru/en/GLONASS/)

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- Es wurden nach Mitteilung gestern beide Boxen gefunden und nach Moskau zum Auslesen geschickt. - eIne davon sei "kritisch beschädigt", es fehle die Informationsverarbeitungseinheit, das Auslesen daher fraglich.
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon bluemchen » So 11. Jul 2021, 22:35

Das Transkript des (18-minütigen) Funkkontaktes der An-26-Besatzung mit dem Dispatcher am Flughafen Palana, das im Internet aufgetaucht ist/sein soll - ohne Erklärung wie es dahin gekommen ist - wird von einem Piloten kommentiert:

https://www.mk.ru/incident/2021/07/11/e ... rilis.html

Das Luftfahrt-Fachrussisch ist maschinell zumindest nicht ordentlich darstellbar.
Es scheinen danach zwei Vermutungen naheliegend zu sein, um es vorsichtig auszudrücken:
- Der Kommandant des Flugzeugs wählte einen Kurs durch den Sinkflug zum Meer. Der Dispatcher empfahl ihm, den Kurs zu ändern, aber er beschloss, an seinem eigenen Entschluß festzuhalten (was sein Recht ist).
- es gab eine Seitenwindkomponente, stärker als am Vortag

Wer von den Kollegen des russischen mächtig ist, kann hier mit reinschauen. Wenn es hilft, etwas zu verstehen
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 12. Jul 2021, 00:25

Ich verstehe nicht, warum der Anflug mit Fremdpeilung vom Boden (UKW-Sichtfunkpeiler) versucht wurde, wenn doch ein NDB-Platzfunkfeuer vom Typ ОПРС (отдельная приводная радиостанция) vorhanden war. Dieser NDB-Anflug wird nach Radiokompass geflogen, indem das Platzfunkfeuer direkt angesteuert wird und von dort ein "vereinfachtes Anflugverfahren" geflogen wird, um im Anflugsektor unter die Wolken zu kommen.

Soweit ich die etwas ungewohnte Anflugkarte von Palana verstehe, sieht der Anflug auf die Landebahn 11 wie folgt aus. Nach Erreichen des Funkfeuers "GD" in 1.200 m Höhe QFE (über dem Platz) wird mit einem Kurs über Grund von 289 Grad für 3 Minuten 30 Sekunden vom Funkfeuer abgeflogen und gleichzeitig auf 600 m QFE gesunken. Dann wird eine Umkehrkurve nach links ausgeführt, um anschließend auf einem Kurs über Grund von 99 Grad weiter zu sinken. Wenn spätestens beim Erreichen von 325 m QFE die Landebahn in Sicht ist, kann gelandet werden.

Mit dem offenbar benutzten UKW-Sichtfunkpeiler kann man das Verfahren in der gleichen Weise fliegen, mit dem Nachteil, daß der Pilot keine kontinuierliche Peilanzeige sieht, sondern in gewissen Zeitabständen einen Peilwert zugesprochen bekommt. Warum der Flugleiter von Palana bei den schlechten Wetterverhältnissen nur alle 80 bis 90 Sekunden eine Peilung durchgab, ist schwer verständlich. In diesem Zeitraum hätte er fünf bis sechs Peilungen mitteilen sollen.

Das Abfliegen eines Sollkurses über Grund mit konstanter Peilung zu einem NDB-Funkfeuer ist bei starkem Seitenwind recht schwierig, gehört aber zu den geforderten Fähigkeiten für Navigatoren und Piloten mit Instrumentenfluglizenz.

Da das Flugzeug bei der Kollision mit der Steilküste mit Sicherheit tiefer als die Entscheidungshöhe von 325 m QFE flog und die Landebahn nicht in Sicht war, kann man schlußfolgern, daß ein Goaround längst überfällig gewesen ist.
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon bluemchen » Mo 12. Jul 2021, 14:11

Ich dachte ja, daß sich "unsere" Peiler im Ruhe- bzw. Unruhestand ein wenig angesprochen fühlen und ihren Sachverstand aktivieren und sich mitteilen. Wenn das gefehlt ist, geben wir uns damit (nicht ganz) zufrieden, aber die kritischen Bemerkungen mußte ich loswerden.

Was zum Ausdruck kam
Kilo Mike Sierra hat geschrieben:(daß) der Flugleiter von Palana bei den schlechten Wetterverhältnissen nur alle 80 bis 90 Sekunden eine Peilung durchgab,..
... entspricht ja dem Normalmodus, Fragezeichen, obwohl die Wetterlage - wie KMS auch bemerkte - eigentlich die erhöhte Frequenz verlangte (und könnte in die Untersuchung einbezogen werden).

Zum Auslesen der Recorder gab es wohl noch keine Mitteilung, auch was das "kritisch beschädigte" Gerät betrifft
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon bluemchen » Di 13. Jul 2021, 22:41

Kilo Mike Sierra hat geschrieben:Der vom Kommersant befragte Laie bringt das "moralische Alter" ins Spiel. Dabei ist hier ein Flugzeug ca. 2,5 km nördlich des Sollflugwegs in eine bis zu 200 m hoch aufragende Felswand geflogen. Beim Überflug der Küste hätte die Flughöhe ca. 160 m betragen müssen. Daher ist ein Flugführungsfehler oder Navigationsfehler hier viel naheliegender als ein technisches Problem mit dem Flugzeug....

WIe es immer verschiedene Meinungen gibt, soll eine "Lanze für" die AN-26 nicht fehlen:
Zitat: "F. Borissow, Chefexperte am HSE-Institut für Verkehrswirtschaft und Verkehrspolitik, sagte, dass es heute keine Alternative zur An-26 für Flüge in Kamtschatka gibt, weder auf dem russischen noch auf dem ausländischen Markt...".
- Was die Verbesserung der Bodeninfrastruktur angeht ... sind derzeit (den Flughafen Yelizovo nicht mitgerechnet), keine Flüge bei schlechter Sicht und in der Nacht eigentlich zulässig....
"Die An-26 hat sich unter den Bedingungen Kamtschatkas bewährt. Dies ist das einzige Flugzeug, das auf einer nassen (u. kontaminierten) Bahn landen kann und eine solche Anzahl von Passagieren und Fracht befördert. Auch ein Ersatz wird absehbar für die An-26 nicht zu finden sein" ...
https://www.eastrussia.ru/news/ekspert- ... hatke-net/
(Weiterführende Links eben dort "Agentur Ostrussland")
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Do 15. Jul 2021, 01:22

Die verunglückte An-26B-100 ist eine umgebaute zivile Frachtversion (An-26B) für den kombinierten Passagier- und Frachttransport. Es können damit bis zu 43 Passagiere befördert werden. Äußerlich ist die Variante an den vier zusätzlichen Kabinenfenstern auf beiden Rumpfseiten sowie dem erheblich vergrößerten Notausstieg auf der linken Seite erkennbar. Die Passagiereinstiegstür ist mit der gleichen ausklappbaren Treppe wie die An-24 ausgestattet. Die Passagierkabine ist durch einen Vorhang von der "Trapo-Klappe" im Heck abgetrennt, auf der das Passagiergepäck und die Fracht verstaut wird. Anders als die Militärvariante sind die Kabinen der An-26B-100 und An-26-100 mit schalldämmenden Material ausgekleidet. Zusammen mit den vollwertigen Passagiersitzen (nix Klappsitze) entspricht der Passagierkomfort dem Niveau der An-24RW.
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon EA-Henning » Do 15. Jul 2021, 04:03

Ich möchte noch hinzufügen, dass es auf dieser Basis auch noch Salon/VIP-Flugzeuge gibt.

Die AN-24-Familie ist doch recht vielseitig. Letztendlich werden noch immer Vertreter der Baureihe gefertigt. Während die Ukrainische Inkarnation namens AN-132 kein Glück hatte, bauen die Chinesen fleißig XI'AN MA-60 und MA-600. Der eigentlich angedachte Nachfolger der AN-2x in Russland, die AN-140 kam ja leider auch nicht in die Puschen.
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Do 15. Jul 2021, 11:51

Der Flugleiter von Palana hat laut Funkprotokoll der An-26 u.a. durchgegeben, daß sie sich 9 km entfernt vom Flughafen befinde.
Wie konnte er das feststellen?
Mit einem UKW-Sichtfunkpeiler allein geht das nicht. Hat Palana vielleicht einen Doppler-Peiler?
Von einem verfügbaren Radar-Service steht auf der Anflugkarte auch nichts.
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Re: AN-26 Kamtschatka vermißt

Ungelesener Beitragvon bluemchen » Di 2. Nov 2021, 21:54

K-M-S´s kritische Betrachtungen zu den Anflugmethoden/-praktiken haben gefruchtet: Palana wird im nächsten Jahr mit zusätzlichen Navigationssystemen ausgestattet,

wie aerotelegraph eben berichtet
https://www.aerotelegraph.com/nach-ungl ... fen-palana

- Dann würde ich schlußfolgern, daß das Forum auch in der Kamtschatka-Region mitgelesen wird ... >grins<
bleiben wir mal dran
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