Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v1)

Einfach mal quatschen

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Kilo Mike Sierra
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Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v1)

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 13. Aug 2012, 14:03

[Dieses Thema ist durch Abtrennung von einem anderen entstanden. Daher ist die Einleitung etwas abrupt.]

Zum Schönreden realer Probleme oder Gefahren, speziell in der Luftfahrt, fällt mir noch viel mehr ein. Und da geht es schon nicht mehr um persönliche Problemverdrängung eines Beteiligten, sondern um Dinge, die in der Luftfahrt systematisch kleingeredet oder mit behördlichem Segen verdrängt werden.

Hierzu möchte ich das Beispiel des Concorde-Unfalles bei Paris nenen.
Die Concorde brannte bereits wie eine riesige Fackel, als sie noch am Boden war. Die einzig vernünftige Handlungsalternative, sofortiger Startabbruch, war im angeblich so um höchste Flugsicherheit bemühten System der zivilen Luftfahrt nicht vorgesehen. Stattdessen schickte man die unglückliche Besatzung mit dem sterbenden Flugzeug in die Luft.
Wem das nicht hochgradig absurd erscheint...

Dieses seit Jahrzehnten etablierte System der Startgeschwindigkeiten (v1, vR, v2 usw.) beruht auf mehreren fahrlässig optimistischen Annahmen, ist aber behördlich genehmigt. Bei näherer Betrachtung der Entstehungsgeschichte dieses Verfahrens, gelangt man ganz schnell zu der Feststellung, daß hier ausschließlich zugunsten der Ökonomie entschieden wurde. In Wirklichkeit rechnet man sich hier die Flugleistungen mehrmotoriger Verkehrsflugzeuge schön, um sie anschließend (legal) überladen starten lassen zu können. Manchmal geht das schief und dann ist das Geschrei riesengroß, aber es wird so weitergemacht wie bisher.
Auch der Startunfall der Il-62M DDR-SEW wäre nicht so ausgegangen, wenn diesem v1-System nicht so kühne Annahmen zugrunde liegen würden.

v1 - Geschwindigkeit, bei der spätestens ein Startabbruch eingeleitet werden muß, um noch auf der verfügbaren Abbremstrecke zum Stehen zu kommen
vR - Geschwindigkeit, bei der das Abheben durch Ziehen an der Steuersäule eingeleitet wird
v2 - sichere Startgeschwindigkeit, bei der auch nach Ausfall eines Triebwerks das Ende der Startbahn in einer Höhe von 35 ft überflogen werden kann
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon EA-Henning » Mo 13. Aug 2012, 14:20

mehrmotoriger Verkehrsflugzeuge schön, um sie anschließend (legal) überladen starten

Das würde bedeuten, die Bremsen sind zu schwach. Man erlaubt also Starts mit Gewichten, die im Zweifelsfall nicht abgebremst werden können?

Schade, hier kommt makl wieder mein Nichtwissen durch. Zumindestens im Bereich der STVO und der STVZo müssen Fahrzeuge das mindenstens 3-Fache an verfügbarer Bremsleistung aufbringen koennen, wie Motorleistung zur Verfügung steht. Ich nahm ähnliches für Flugzeuge an....
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 13. Aug 2012, 14:32

Du denkst völlig richtig. Die Kapazität der Bremsen ist eine von mehreren Variablen, die hier eine Rolle spielen. Von Bedeutung sind auch die Startmasse, die Länge der für einen Start mit anschließendem Startabbruch zur Verfügung stehenden Startbahn, die Beschaffenheit der Startbahn (Reibungskoeffizient), Gefälle, Längswindkomponente u.a.
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon Flieger Bernd » Mo 13. Aug 2012, 18:49

EA-Henning hat geschrieben: ... Ich werde beispielweise belächelt, weil ich auch auf Parkplätzen blinke. ...

Nach 44 Jahren finde ich doch noch einen Gleichgesinnten Bild


v1 vR v2 .... ich wußte garnicht wie gefährlich ich damals lebte,
ich mußte diese Geschwindigkeiten berechnen
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 13. Aug 2012, 20:51

Ich bin auch so ein einsamer Blinker in der Wüste...

Das Konzept der v-Geschwindigkeiten ist an sich nicht gefährlich, zumindest wenn alles so abläuft, wie von seinen Erfindern gedacht (erhofft).
Das v-Speed Konzept ist allerdings zu einseitig auf den Umgang mit Triebwerksausfällen ausgelegt. Andere Probleme wurden nicht oder nur am Rande in Erwägung gezogen.

Ob ein Flugzeug wirklich flugfähig und auch steuerbar ist, das können die Piloten erst in den Sekunden nach dem Abheben feststellen. Das v-Speed Konzept setzt jedoch einfach voraus, daß bei Problemen, die nach v1 auftreten, der Start fortgesetzt wird. Tragisch nur, wenn man es mit dem falschen Problem zu tun hat. Dafür ist kein Ausweg vorgesehen, auch wenn man noch den sicheren Boden unterm Fahrwerk hat.

Beim Takeoff Briefing hört man immer wieder den gleichen, mit viel Optimismus gesprochenen Satz: "In case of engine failure after v1, we continue the takeoff..."
Per Definition wird davon ausgegangen, daß jedes Verkehrsflugzeug nach v1 flugfähig ist.
Das ist reines Gottvertrauen und behagt mir überhaupt nicht.
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon EA-Henning » Mo 13. Aug 2012, 21:45

Schön! Dann kann ich mich ja mal trauen....habe ich immer vermieden wegen Auslachgefahr.

Ich habe immer gedacht, warum ist nicht vor und nach der Rwy nicht noch mal ein wirklicher Sicherheitsstreifen aus gewalztem Erdreich, sagen wir mal so 5 km.
Gut, die Flughäfen würden in den meisten Fällen etwas weiter weg von Stadtzentren sein.

Problem dabei ist, es passiert "zu wenig" und alle würden sagen, bringt doch nichts. Nur mal ganz ehrlich, viele Unfälle (Auch der Concorde-Unfall) sowohl in der Luftfahrt als auch anderswo sind tragisch deshalb, weil ein Ereignis eintritt, was so nicht erwartet wurde. Wenn nur ein wenig mehr passive Sicherheit vorhanden wäre bzw genutzt (!) würde, gäbe es sicher vierl weniger Opfer.
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Mo 13. Aug 2012, 22:56

Doch, das darf man denken.
Ich mache mir auch oft Gedanken, wie ein wirklich sicherer "Retorten"-Flughafen angelegt werden könnte, wenn man einmal alle anderen Zwänge der realen Welt außen vor läßt*.
Bei mir kommen dann u.a. auch ausgedehnte, um die Pisten herum angelegte Sicherheitsstreifen vor.

*) Das wäre auch ein interessantes Thema, wo jeder seine Ideen beitragen könnte.


Die Concorde hatte hinter dem Ende der Startbahn noch 1,3 km (!) völlig freies Flughafengelände vor sich.
Das muß man sich einmal überlegen. Diese vorhandene Sicherheitsfläche wurde nicht genutzt, weil heutige Flugzeuge ab v1 zum Fliegen verdammt sind.
Natürlich hätte das Fahrwerk diesen Untergrund nicht verkraftet und der bereits bestehende Brand hätte eine Evakuierung äußerst schwer, aber vielleicht doch nicht völlig aussichtslos gemacht.
Ein Startabbruch oder eine Landung außerhalb der Piste wird einfach nicht in Betracht gezogen.
Genau aus diesem Grunde halte ich "russische" Fahrwerke für wesentlich sicherer als nach westlichen Standards ausgelegte Konstruktionen.

Es gab auch einmal ein Leben vor v1, der kritischen Startabbruchgeschwindigkeit.
Die erforderliche Pistenlänge der Iljuschin Il-14 wurde so berechnet, daß sie selbst nach dem Abheben aus einer Höhe von ca. 50 ft (15 m) wieder geradeaus auf der Bahn gelandet werden konnte. Eine v1 wie im heutigen Sinne gab es daher bei der Il-14 nicht bzw. sie wurde erst im Flug erreicht.

Das ist schon irgendwie Dynamit. Von einem solchen Sicherheitspolster beim Startvorgang wagen Verkehrspiloten heute nicht einmal zu träumen.
Eigentlich ist es unglaublich, daß man hinter diesen Sicherheitsstandard wieder zurückgegangen ist. (Zu den Gründen für diese Abkehr werde ich später noch kommen.)
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon Flieger Bernd » Do 16. Aug 2012, 18:23

Nach v1 kein Startabbruch mehr - aber bei vR ist das Flugzeug erst steuerfähig.
vR = Rotation - abheben des Bugrades möglich, bei v2 erst flugfähig

Habe ich das noch richtig im Kopf ??
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Re: Sicherheit des V-Speed-Konzepts (Startabbruch nur bis v

Ungelesener Beitragvon Kilo Mike Sierra » Do 16. Aug 2012, 18:30

Kilo Mike Sierra hat geschrieben:...
Auch der Startunfall der Il-62M DDR-SEW wäre nicht so ausgegangen, wenn diesem v1-System nicht so kühne Annahmen zugrunde liegen würden.
...

Diese Ansicht möchte ich näher erläutern, da sicher nicht offensichtlich ist, wo ich hier den Zusammenhang mit den Sicherheitsmängeln des v1-Systemes sehe.

Aus den gerichtlichen Einvernehmungen geht hervor, daß der Flugingenieur (FI) seine Fehlhandlung beim Startabbruch (Abschaltung aller vier Triebwerke) aufgrund einer panischen Reaktion begangen hat. Was auf den ersten Blick wie rein menschliches Versagen als hauptsächliche Unfallursache aussieht, muß jedoch auch einmal unter einem anderen Blickwinkel hinterfragt werden.

Warum geriet (mindestens) ein Besatzungsmitglied in Panik?
Weil der aufgrund der blockierten Höhensteuerung unvermeidliche Startabbruch weit nach v1 und sogar nach vR angewiesen werden mußte.
Dem FI (und nicht nur ihm) muß in diesem Moment klar gewesen sein, daß akute Gefahr für Leib und Leben bestand, denn den "point of no return" (v1) hatte man längst passiert. Das Flugzeug konnte weder abheben, noch gemäß Kalkulation sicher auf der Bahn zum Stehen gebracht werden. Seine Insassen befanden sich somit bereits in Gottes Hand.

Das Konzept zur sicheren Startdurchführung berücksichtigt leider überhaupt nicht, daß sich bei Erreichen der Geschwindigkeit v1 noch lange nicht erkennen läßt, ob ein Flugzeug am Ende auch wirklich flugfähig ist.
Es gebietet doch die Vernunft, daß die endgültige Entscheidung über Abbruch oder Fortsetzung des Startvorganges erst dann getroffen werden kann, wenn das Flugzeug erfolgreich abgehoben hat. Das ist der Moment der Wahrheit. Entscheidend sind die ersten Sekunden nach dem Abheben*. Wenn das nicht gelingt oder andere Gründe gegen die Fortsetzung des Startes sprechen, dann muß aus dieser Position noch ein sicherer Startabbruch möglich sein.

Bei Vorhandensein dieser Handlungsalternative, wäre im Cockpit der DDR-SEW keine Panik ausgebrochen. Jedes Besatzngsmitglied wäre mental darauf vorbereitet und auch trainiert gewesen, bei jeglichen Problem im Moment des Abhebens, den Start abzubrechen. Im Kopf könnte sich das so abspielen: 'Probleme mit der Steuerung - Abheben nicht möglich - Ok, dann sofort Stop!'

Warum es diese sichere Alternative nicht (mehr) gibt, wird wohl jeder ahnen.
Die Startbahnen sind zu kurz, die Flugzeuge zu schwer beladen, die Flügel zu klein, die Abhebegeschwindigkeiten viel zu hoch, die Bremsen zu schwach, die Fahrwerke nicht geländegängig, ...
Nur einen dieser begrenzenden Parameter zu verändern, würde die heute erreichte ökonomische Effizienz der Flugzeuge grundsätzlich in Frage stellen.
Diesen großen Stein will keiner werfen, auch nicht die Luftfahrtbehörden, deren Aufgabe es wäre. Es wird nicht einmal andeutungsweise in diese Richtung gelenkt.

Es ist überaus paradox.
Bei Auftreten von Problemen vor Erreichen von v1, werden die Piloten per Vorschrift und natürlich mit gutem Grund zum sofortigen Startabbruch gezwungen.
Tritt jedoch das gleiche Problem nach v1 ein, so wird dem schwer angeschlagenen Flugzeug mit behördlichem Segen ein angenehmer Flug gewünscht und man hofft das Beste für diesen ungeplanten Testflug mit Passagieren.
Ist das wirklich ein gutes Sicherheitskonzept?


*) Es gibt noch mehr Probleme, die einen Flug in Frage stellen können, sich aber erst beim Abheben zeigen:
- Flugzeug überladen
- Flugzeug vertrimmt
- falsche Schwerpunktlage (Flugzeug falsch beladen oder Ladung beim Beschleunigen oder Abheben verrutscht)
- Steuerung falsch angeschlossen (Ruderwirkung vertauscht)
- falsche Klappenstellung
- falsche Abhebegeschwindigkeit berechnet
- Überziehwarnung
- ...
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